Ommatidien, Dieter Wenk, 2011

6. Juni 2011

I

Natürlich ist es ein bisschen albern, auf Tiere eifersüchtig zu sein. Doch wer auch nur ein wenig die Bilder¹ von Rebecca Michaelis kennt und sich der ersten Begegnung mit ihnen entsinnt, wird das Gefühl einer sehr speziellen Überforderung nicht vergessen haben. Keine Frage, dass Fliegen nicht am Gespräch der Kunst teilhaben können. Doch mit ihren Facettenaugen wäre man manchmal ganz gerne bewehrt. Wie elegant könnte man sich mit den ausreichend vorhandenen Richtungsaugen, den Ommatidien, den teils grafischen, teils (oft nur auf den zweiten menschlichen Blick erkennbaren) gestischen Bildfeldern von Rebecca Michaelis anbequemen.
Als ob der totale unmittelbare Blick, den ein Fliegenauge ermöglichte, die sofortige Auflösung des Bildes zur Folge hätte, die das menschliche erst nach mühsamer Arbeit der Rekonstruktion nachliefern könnte. Als ob die menschliche Langsamkeit ein Nachteil wäre, die durch optische Optimierung aufgehoben würde und sich die anfängliche Überforderung in das finale Statement eines entsprechungsgenauen Bezugsrasters überführen ließe.

Der ersten Begegnung folgt eine zweite, eine dritte, und langsam entspannt sich scheinbar der Blick des Betrachters, der sich nun fragt, ob er es mit raffiniert geschichteten Mosaikarbeiten zu tun hat, oder die Künstlerin sich eine diebische Freude damit gemacht hat, ein Puzzle zu organisieren, dem nur mit harten Schnitten unsererseits durch die Leinwand oder das Papier beizukommen wäre. Denn da ist ja keine Stelle, die unseren Blick für länger hält. Wir taumeln, auch jetzt noch, von einem Bildelement zum nächsten, nehmen wieder Abstand, um kohärente Teilabschnitte herauszufiltern, die sich im nächsten Moment schon wieder als illusionär erweisen, den Blick auf ein vermeintlich zugrundeliegendes geheimes Muster zu erkennen zu geben. Oder wir glauben, verschiedene Tiefenzonen gesichtet zu haben, auf die die einzelnen Segmente zu beziehen wären, auf dass sie zuletzt doch eine Einheit bildeten.
Vermutlich wollen wir einfach nicht zur Kenntnis nehmen, dass wir es bei den bildnerischen Werken von Rebecca Michaelis mit abstrakter Kunst zu tun haben. Und es uns nicht gelingen will, in ihren enigmatischen Bildraum einzudringen, der uns doch zugleich verführerisch genau dazu aufzufordern scheint. Als ob sich vermeintliche Hindernisse aus dem Weg räumen ließen, als ob sich vielleicht sogar durch kräftiges Schütteln alles zurück an seinen Platz bewegen würde. Noch immer glauben wir, wie durch ein brachiales Ausbrechen aus einem Zugabteil den Dingen da draußen auch nur einen Deut näher zu kommen. („Mit dem linken Fuß haben Sie sich auf die Kupferrille gestellt, und mit Ihrer rechten Schulter versuchen Sie vergeblich, die Schiebetür etwas weiter zu öffnen.“²)

II

Und plötzlich merken wir, dass sich unsere Suchscheinwerfer beruhigt haben und sich ein eigenartiges Gleichgewicht einzustellen beginnt. In der gefühlten Mitte des Raums begegnen sich unser Sehen und der Blick des Bildes, das in der Zwischenzeit zu einer gelassenen Souveränität gefunden hat. Vergessen die anfängliche Hast unsererseits, die dem Bild seine gleichgerichtete Gegenwärtigkeit austreiben wollte. Ein Spiel beginnt, dass man in der Kunst kaum mehr für möglich gehalten hat. Dass die Spieler, Betrachter und Betrachtetes, sich in der Schwebe halten und so etwas wie Respekt voreinander bezeugen. Ein Respekt, der sich aus einer fulminanten, duellhaften Ausgangssituation heraus ergibt, die freilich nichts Provozierendes hat, sondern sich aus der angenommenen Einladung einer extremen Blickerfahrung herleitet. Und diese führt zu einer grandiosen Beruhigung zurück, von der man sagen möchte, dass jetzt gar nichts mehr passieren kann. Nicht, dass etwas stillgestellt wäre. Es hat sich nur etwas ergeben, was sich nach der Erweiterung unserer sonstigen Bezugsgrößen anfühlt. Ein Stimuliertwerden, eine Aufmerksamkeitsbereicherung, die wie selbstverständlich zum Resonanzboden einer nächsten Begegnung werden möchten. Und fast mit Erschrecken stellen wir fest, dass diese scheinbar zeitlose Gelassenheit einer ganz speziellen Situation geschuldet ist, die in keiner Weise die Gewähr und die Verantwortung dafür übernehmen kann, was genau dann passiert, wenn der Zauber bricht und sich wieder eine Art Hilflosigkeit einstellt, die wir doch mit diesem Exerzitium bannen wollten.

I + II

Ja, wir sind nur in einer Ausstellung. Wir sehen Bilder und sehen sie uns an. Aber wer nicht wenigstens einmal das Gefühl dabei hatte, selbst ausgestellt zu sein, vor den Bildern und für sie, hat nichts gesehen.

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1. Ich denke an Bilder wie etwa Tarabas (2007), Akira (2008), Estagua (2008), Googleplex (2007), Destinat (2007).
2. Michel Butor, La Modification, Paris 1957 (Les Éditions de Minuit), Seite 7, Übersetzung vom Verfasser.

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